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Dar al-Manasir – Eine kaum bekannte Natur- und Kulturlandschaft hinter dem Vierten Katarakt

Dar al-Manasir, das "Land der Manasir", liegt ungefähr 400 km nördlich der sudanesischen Hauptstadt Khartum in einem Abschnitt des Niltals, in dem der Fluss hauptsächlich in Richtung Südwesten fließt. Über Dutzende Kilometer hinweg bestimmt die oberflächlich anstehende Granitschwelle des Vierten Katarakts das Landschaftsbild. Am Ufer bildet sie ausgedehnte, schwer zu passierende Hügelketten, im Flußlauf zahllose kleinere und größere Inseln, zwischen denen Strudel und Stromschnellen einen durchgehenden Schiffsverkehr unmöglich machen. Infolge der Lage und der Beschaffenheit der Region ist sie seit der Antike von den Fernverkehrsrouten nicht berührt worden. Wer aus Richtung Ägypten durch Nubien nach Süden reiste, durchquerte entweder die Nubische Wüste und traf in der Gegend von Abu Hamed wieder auf den Fluss oder verließ das Niltal unterhalb des Vierten Katarakts, um den großen Nilbogen durch die Bayuda-Steppe abzuschneiden und erst oberhalb des Fünften Katarakts in der Gegend der Atbaramündung den Nil wieder zu erreichen. Auch heute noch ist es nicht ganz leicht, nach Dar al-Manasir zu kommen. Die asphaltierte Straße endet bei der Dammbaustelle. Die Pisten, auf denen es danach noch etliche Dutzend Kilometer weitergeht, sind selbst für Geländewagen eine Herausforderung. Die Felsen reichen vielfach direkt bis an den Nil, so dass zuweilen zwei auf demselben Ufer in Sichtweite liegende Ortschaften mit dem Auto nur über einen langen Umweg durch die Wüste erreichbar sind.

Nillandschaft Flächen, die zum Anbau von Kulturpflanzen genutzt werden können, gibt es nur in unmittelbarer Flussnähe. Vor allem auf dem rechten Ufer und in der stromabwärts gelegenen Hälfte von Dar al-Manasir sind sie so spärlich, dass nicht einmal ein durchgehendes grünes Uferband die graubraune und gelbe Landschaft auflockert. Da man zwar auf höhergelegenem Grund, doch möglichst nahe bei den Feldern wohnt, sind die Siedlungen hier kleine Weiler, in denen jeweils kaum mehr als ein Dutzend Familien leben.

NillandschaftManchmal direkt am Ufer, manchmal in einer Entfernung von einigen hundert Metern beginnt die Steppen- und Wüstenzone, in der das Auge kaum etwas anderes erblickt als geröllbedeckten Sandboden, Steine, Felshügel und Wadieinkerbungen. Vereinzelte Pflanzen, Tiere und erstaunlich viele Spuren menschlicher Aktivitäten zeigen jedoch an, dass selbst diese Gebiete nicht so lebensfeindlich sind, wie sie auf den ersten Blick wirken mögen. Spärlicher Winterregen sorgt, wenn er nicht wie in manchen Jahren ganz ausbleibt, für eine Vegetation, die die Grundlage für nomadische Viehhaltung abgibt. Bis vor wenigen Jahrzehnten hielten die Nomaden größere Kamelherden, deren Eigentümer meistens am Nil lebten. Doch nach mehreren regenarmen Jahren in Folge ging der Kamelbestand drastisch zurück, so dass die Tiere heute nur noch selten anzutreffen sind.

Da Dar al-Manasir einen vergleichsweise selbständigen Kultur- und Wirtschaftsraum darstellt und sich dort der Abgeschiedenheit wegen manche Traditionen länger gehalten haben als anderswo, eröffnen sich viel versprechende Perspektiven für landschaftsarchäologische Forschungen. Dabei soll geklärt werden, welchen Einfluss die Naturlandschaft auf das Leben der Menschen besaß, wie sie sich an ihre Umwelt anpassten und wie sie sie gestalteten. In welchem Umfang die schwer zugängliche Region zu verschiedenen Zeiten Menschen aus anderen Gegenden als Rückzugsgebiet gedient hat, soll ebenfalls geklärt werden. Schriftliche Quellen belegen, dass im Mittelalter mehrfach Herrscher des weiter stromab gelegenen Königreichs Makuria bei Thronstreitigkeiten oder militärischen Angriffen aus dem Norden hinter dem Vierten Katarakt Zuflucht suchten. Dass Vergleichbares auch in anderen Epochen geschah, ist nicht unwahrscheinlich.

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